Tote Winkel
Das Lagertor von Auschwitz-Birkenau ist zum Symbol des Holocaust geworden. Wir erinnern vor allem an Auschwitz, weil es Menschen geschafft haben, Auschwitz zu überleben. Sie überlebten, weil Auschwitz nicht nur ein Vernichtungslager war, sondern auch ein Konzentrations- und Arbeitslager.
Den anderen Vernichtungslagern entkam nahezu niemand. Bełżec, wo 434.508 Juden ermordet wurden, überlebten nur zwei oder drei. Diese Lager liegen heute meist im toten Winkel der Erinnerung: Treblinka, Chełmno, Bełżec und Sobibór im besetzten Polen – wo insgesamt rund 1,6 Millionen Menschen ums Leben kamen. Janowska bei Lviv in der heutigen Ukraine. Oder Maly Trostinec in der Nähe von Minsk, der Hauptstadt von Belarus.
Die Massenerschießungen deutscher Einsatzgruppen in Ostpolen, im Baltikum und der Sowjetunion spielen ebenfalls kaum eine Rolle in der öffentlichen Erinnerung, obgleich im Holocaust mindestens genauso viele Juden durch Kugeln wie durch Gas getötet wurden. Aus den Erschießungsgruben kehrte kein Mensch zurück. Die Opfer liegen oft abgelegen oder unmarkiert verscharrt – in Schluchten, Sandgruben und Wäldern, auf Feldern und Müllkippen, in alten Panzergräben.
Auf vielen Reisen vom Baltikum bis zur Krim habe ich Tatorte des Holocaust besucht: Vernichtungs- und Arbeitslager, Massengräber, Transitghettos und Durchgangslager, Erschießungsstätten, ausradierte Dörfer, geschändete Friedhöfe, entweihte Synagogen. Es sind Landschaftsbilder eines Terrains, das kontaminiert ist von der Vergangenheit. Überall habe ich fotografiert, was ich sah. Meist gibt es aber nicht mehr viel zu sehen, wo die Nationalsozialisten Millionen Menschen ermordeten, erstickten, verhungerten und folterten. Das Gras auf den Massengräbern ist nicht weniger grün als anderswo.